Eigentlich hätte das Thema wesentlich mehr Besucher*innen verdient gehabt: Nihat Öztürk, ehemaliger Geschäftsführer der IG Metall Düsseldorf, las aus dem Buch "60 Jahre - wie Deutschland zur Heimat wurde", das angesichts des 60-jährigern Bestehens des deutsch-türkischen Anwerbeabkommens von Özcan Mutlu herausgegeben wurde. 28 Menschen, die selbst oder deren Eltern aus der Türkei nach Deutschland kamen, stellen in diesem Buch ihre Lebensgeschichte vor. Auch Nihat Öztürk selbst gehört zu diesen Menschen - nachdem den Herausgebern kurz vor Fertigstellung des Buches auffiel, dass Arbeitnehmervertreter*innen in dem Buch noch gar nicht vorkamen, sprachen sie ihn über die IG Metall auf einen Beitrag an.
Als rein subjektive Auswahl stellte Nihat Öztürk zunächst einige der Porträtierten vor, so z.B. Ugur und Özlem Sahin, die Gründer*innen von Biontech, Aygul Özkan, ehemalige Ministerin in Niedersachsen, oder die Herzchirugin Dilek Gürsoy, deren alleinerziehende Mutter (der Vater starb früh) ihr als Hilfsarbeiterin Gymnasium und Medizinstudium finanziert hat. Das Engagement und die Kämpfe der ersten und zweiten Generation von Migrant*innen haben aber nicht nur ihr eigenes Leben verändert, sondern auch die Gesellschaft als Ganzes, z.B. bei den Löhnen oder im Ausländerrecht. Sicher gibt es hier noch vieles zu tun, aber verglichen mit der Situation vor 60 Jahren ist doch einiger Fortschritt passiert.
Anschließend las Nihat Öztürk aus seiner eigenen Lebensgeschichte vor und ergänzte die Lesung mit weiteren Episoden seines abwechslungsreichen Lebens. Aufgewachsen in einem kleinen Ort nahe der türkischen Grenze war er der erste seiner Familie, der überhaupt zur Schule gehen konnte - erst als er 6 war, gab es zumindest im Nachbarort eine Schule und er gehörte zum ersten Jahrgang dort. Mit 18 kam er dann nach Deutschland, zuerst ins fränkische Bad Windsheim, wo auch sein Vater schon arbeitete und er unter miserablen Bedingungen in einer Eisengießerei arbeitete. Auf einer Informationsveranstaltung der IG Metall lernte er bald, dass es auch anders gehen könne, mit Tariflöhnen und fairen Arbeitsbedingungen. Schnell wurde er Vertrauensmann in seinem Betrieb.
Die IG Metall ermöglichte ihm dann später ein Studium der Soziologie in Hamburg - nachdem er zunächst eine Aufnahmeprüfung bestehen musste, schließlich hatte er ja kein deutsches Abitur. Als wissenschaftlicher Betreuer in einem Erwachsenenbildungsprojekt der Stadt Hamburg fand er dann die erste Anstellung als Soziologe, bevor er für ein DGB-Projekt zur gewerkschaftlichen Bildungsarbeit nach Dortmund wechselte. Bei der Gewerkschaft blieb er dann und wechselte 1996 nach Düsseldorf zur IG Metall. Als Geschäftsführer war er in einigen Aufsichtsräten, konnte über Millionenprojekte entscheiden - aber in unserer Demokratie durfte er lange nicht mitbestimmen. Erst 2018 stellte er einen Antrag auf die deutsche Staatsbürgerschaft, da er es zutiefst ungerecht empfand, dass er im Gegensatz zu Menschen aus vielen anderen Ländern hierfür seine "alte" Staatsbürgerschaft aufgeben musste.
Zeit, dass dieses antiquierte Einbürgerungsrecht geändert wird, forderte Nihat Öztürk, damit es die gesellschaftliche Vielfalt besser widerspiegelt. Eine Vielfalt, die uns politisch gestärkt und kulturell bereichert hat und die für ihn stets eine Verpflichtung ist, sich gegen Rassismus und Diskriminierung zu engagieren. Dem können wir als NaturFreunde nur beipflichten.