Kurz unter der Umlenkung in 18 m Höhe schaut er noch einmal zurück. Es scheint, als würde er es nicht schaffen, käme einfach nicht mehr weiter, keinen Zentimeter. Als er zu uns runterschaut ist sein Lächeln zu einer Grimasse gefroren. Ich weiß was er jetzt fühlt, physisch, aber auch psychisch. Die Muskeln brennen. Alles schreit in ihm loszulassen. Die saugende Tiefe unter ihm macht Angst.
„Hasan, Hasan, Hasan…“, skandieren die jungen Flüchtlinge um mich herum. Da gibt sich Hasan unerwartet noch einmal einen Ruck. Unter den Anfeuerungsrufen zieht er sich mit der letzten verbleibenden Kraft und einer großen Willensanstrengung durch die noch fehlenden 2 Meter bis zur Umlenkkette. Er schlägt an und sackt in seinen Sitzgurt. Während seine Mitstreiter johlen und Beifall klatschen, brüllt er seine Freude unter das Dach der Kletterhalle.
Im Jahr 2015 strömten mit der großen Flüchtlingswelle unter anderem Tausende von jungen Menschen, viele von ihnen minderjährig und unbegleitet, über die sogenannte Balkanroute nach Europa und auch nach Deutschland. Fasziniert saß ich damals vor dem Fernseher und blickte auf die endlosen Trecks von Flüchtlingen, die sich durch das satte Grün der südlichen Voralpen Sloweniens schlängelten. Auffällig war die große Anzahl von jungen Männern unter ihnen. Die meisten kamen aus Afghanistan und Syrien, aber auch aus dem Irak und den kurdischen Siedlungsgebieten des Nahen Ostens. Regionen, wo der Tod durch Krieg und Elend für die viele von ihnen allgegenwärtig war, jeden Tag.
Einige Wochen später stehe ich vor einer kleinen Gruppe von unbegleiteten, minderjährigen Flüchtlingen. Sie sind zwischen 16 und 17 Jahre alt. Mit Hilfe eines bebilderten Vortrags erkläre ich ihnen, was es mit dem Klettern auf sich hat. Und, dass ich genau diese Sportart mit ihnen betreiben will. Ich hatte mich nach den Bildern und Berichten im Fernsehen kurzfristig entschlossen Flüchtlingshilfe zu leisten. Dabei entschied ich mich für das, was ich kann: Sportklettern mit Kindern und Jugendlichen. Als Übungsleiter für Sportklettern bei den NaturFreunden Deutschlands blicke ich auf eine 25-jährige Erfahrung in der Arbeit mit Jugendlichen zurück. Ich war mir sicher, dass ich hier am ehesten Hilfe leisten können würde.
Die Leitung des Auffangheimes unterstütze mich auf meine Anfrage hin sofort, auch finanziell. Die Mitarbeiter dort wissen, dass diese Jugendlichen beschäftigt werden müssen. Sport kann das. Er baut den Frust, die innere Spannungen und die Langweile ab, unter der die jungen Flüchtlinge in ihrer jetzigen Situation in Deutschland oft leiden. Das Asylverfahren ist langwierig und für sie ohne Sprachkenntnisse ein Mysterium. Eine ungewisse Zukunft wartet auf sie. Regelmäßiges Essen und ein Dach über den Kopf sind gut, aber allein dafür sind sie nicht geflüchtet und zu uns gekommen.
Bald haben sich drei interessierte Jungs gefunden, zwei Syrer und ein Albaner. Ziel des eintägigen Treffens war es, den Jugendlichen das Ankommen in einer völlig neuen Welt zu erleichtern, sie aus der Isolation des eintönigen Heimalltags herauszuführen und ihnen erste Einblicke in das Alltagsleben ihrer neuen Umgebung zu ermöglichen.
Der Klettertag verlief erfolgreich. In der Folgezeit habe ich weitere Kletteraktionen mit jungen Flüchtlingen durchgeführt. Mit der Unterstützung anderer Kletterer konnten teilweise bis zu 12 Jugendliche während der Klettertage betreut werden. Allerdings konnte auf Grund zu hoher Eintrittspreise der Kletterhallen und den fehlenden öffentlichen Mitteln bislang kein kontinuierliches Sportangebot für die geflüchteten Jugendlichen entstehen.
Ein Beispiel, wie Klettersport die Entwicklung und Integration positiv beeinflussen kann, zeigte das Beispiel eines jungen Albaners. Ich hatte Qenan Ende 2015 in einem Dortmunder Auffangheim für unbegleitete, minderjährige Flüchtlinge kennengelernt. Er hatte sich als Interessent für das Klettern in eine von mir ausgehängte Liste eingetragen. Schon bei seinen ersten Kletterversuchen war er mir als talentiert aufgefallen. Ich bot ihm an, öfter mit mir zum Klettern zu kommen. Er nahm das Angebot an, denn das Anforderungsprofil des Klettersports schien seinen Interessen absolut entgegen zu kommen. Schon nach wenigen Terminen war er vom Klettervirus infiziert: Alles was damit zu tun hatte, saugte er wie ein Hochleistungsstaubsauger auf.
Durch seinen großen Ehrgeiz und seine athletischen Veranlagung erzielte Qenan erstaunliche Fortschritte. Er lernte schnell und schon bald machte ich ihn mit der Sicherungstechnik vertraut, so dass er mich inzwischen auch vorsteigend sichern konnte. Seine Kletterleistungen und sein Mut fielen nicht nur mir auf: Inzwischen ist er ein anerkanntes Mitglied unter den NaturFreunde-Kletterern, aber auch in der Community der Kletterhalle.
Nach drei Jahren des Kletterns hatte sich Qenan von einem unsicheren 16-jährigen Flüchtlingsjugendlichen zu einem starken, selbstbewussten, jungen Mann entwickelt. Er macht inzwischen eine Ausbildung zum Landschaftsgärtner. Nachdem er vor zwei Jahren Mitglied bei den NaturFreunden Deutschlands geworden ist, hat er sich für 2019 zu einem Übungsleiterlehrgang Sportklettern angemeldet. Von der Bedeutung des Klettersports für seine persönliche Entwicklung sagt er heute zurückblickend:
„Als ich im Herbst 2015 nach Deutschland kam, war mein Ziel, möglichst schnell Deutsch zu lernen. Da hat mir der Klettersport geholfen. Ich musste dann ja immer Deutsch sprechen.
Später habe ich gemerkt, dass das Klettern mein Ding war. Anerkennung für meine Leistung in dieser Sportart zu finden, tat mir gut. Ich war dann nicht der Flüchtling Qenan. Ich war dann der Kletterer Qenan, der gerade eine geile Route durchgezogen hatte. Das interessierte und darüber sprach man dann mit mir.
Der Klettersport hat mir irgendwie auch die Kraft gegeben, die ich für die Bewältigung anderer Probleme im meinem Alltag brauche. Die sind ja auch nur wie eine Kletterroute: Du willst eine schwere Route klettern. Immer wieder fliegst du raus, lernst aber dabei. Auch nicht aufzugeben. Und irgendwann hast du sie geschafft. So ist das auch im normalen Leben, nicht aufgeben, immer weiter machen. Vielleicht ist das das Wichtigste, was ich beim Klettern gelernt habe.“
Dieter Staubach